Tausende neu ankommende Flüchtlinge jeden Tag in Nickelsdorf, angeblich chaotische Zustände, ein völlig überlasteter kleiner Ort… dutzende Medien berichten seit Tagen von der Grenze zu Ungarn. Ich will mir selber ein Bild machen, steige ins Auto und fahre die 280 Kilometer Richtung Ostösterreich.
Auf der Westautobahn. Im Halbstundentakt plärrt Ö3, dass die B10 Richtung Nickelsdorf in beiden Richtungen gesperrt sei. „Vorsicht! Personen auf der Fahrbahn!“ Nachdenklich passiere ich Wien und nähere mich der 1.549-Einwohner-Gemeinde Nickelsdorf. Da es auch auf der Autobahnausfahrt und der Grenzstation Probleme mit dem Verkehr geben soll, verlasse ich die A4 bereits acht Kilometer vorher bei Mönchhof. Von hier gelange ich problemlos ins Ortszentrum von Nickelsdorf.
Kein Chaos im Ortszentrum
Nach den vorangegangenen Tagen ist jetzt von Chaos und Menschen auf der Fahrbahn keine Spur mehr, im Gegenteil: Auf einer Bank im Ortszentrum sitzt eine Österreicherin mit ihrem Kind, das gelangweilt an einer Semmel kaut. Keine Flüchtlinge, kein Müllchaos, keine Unordnung. Erst am Ortsende, einen knappen Kilometer vor der Staatsgrenze, wird durch eine endlos lange Schlange von geparkten Autobussen und Taxis klar, dass hier Ausnahmezustand herrscht.
Bordell als erster Eindruck
Ich parke mein Auto und fahre mit dem mitgebrachten Rad die ab hier gesperrte Straße Richtung Grenzübergang. Erste in die Felder gewehte Wärmefolien, Plastiksackerl und Wasserflaschen tauchen auf. Hier parken auch viele österreichische und deutsche Autos, am Wagen lehnen arabischstämmige Männer. Einer sagt mir, er wartet auf zwei Freunde, die heute kommen und die er mit nach Deutschland nehmen will. Kurz vor der Grenzstation befindet sich ein Bordell und ein Laufhaus mit einladender Leuchtschrift: „Geöffnet“. Diese beiden Buden sind dann auch das erste, was die vielen tausend Flüchtlinge nach ihrem Grenzübertritt in Österreich zu Gesicht bekommen.
Direkt dahinter der Komplex der ehemaligen Grenzstation, die mehrere Gebäude auf einer Fläche von etwa drei Fußballfeldern umfasst. Überall riecht es trotz vieler mobiler WCs nach Kot und Urin, es liegt Plastikzeugs und alte Kleidung herum. Mülleimer sind sehr wenige vorhanden. Mittendrin: dutzende abgestellte Polizeiautos, Exekutivbeamte, herumwuselnde Helfer.
Trotz allem positive Stimmung
Ich nähere mich einem mit Absperrgitter umzäunten Bereich, in dem etwa 100 Flüchtlinge ausharren. Die Menschen wirken auf mich nicht müde und ausgelaugt, sondern eher entspannt und zuversichtlich. Fast alle wirken trotz der Strapazen auf ihrer Reise durch Ungarn gepflegt. Auch die Kleidung scheint durchwegs sauber, obwohl die meisten gerade mal einen Rucksack als Gepäck mit dabeihaben. Kinder laufen herum und spielen fast unbeschwert. Neben mir sitzt eine Mutter mit Plastikteller und füttert ihr Baby.
Ich fotografiere einige Menschen und die spielenden Kinder, ohne zu fragen. Böse Worte gibt aber es keine. Im Gegenteil: Einige Buben kommen angelaufen und rufen grinsend und winkend „Hello-hello!“. Ein etwa 25-jähriger Syrer ruft mich zu sich und sagt lachend „Foto-Foto!“. Ich erfülle ihm den Wunsch und knipse.
Viele Familien, Kinder, alte Menschen
Ins östliche Ende des Geländes mündet eine kleine Straße. Auf dieser kommen in einer endlosen Schlange die Neuankömmlinge vom etwa 300 Meter entfernten Bahnhof auf der ungarischen Seite Richtung Österreich. Was auffällt: Waren es früher fast nur junge Männer, sind es jetzt ganze Familien, sehr viele Kinder, aber auch alte Menschen. Familien mit acht Mitgliedern und mehr seien keine Seltenheit, höre ich. Die größte Gruppe an diesem Tag war eine 18-köpfige Familie, erzählt mir ein Beamter.
„Kane Fotos von unsare Beamten!“
Es sind viele Polizisten hier, die sich aber sehr zurückhaltend und passiv verhalten. Ihren Gesichtern sieht man an, dass sie die letzten Tage mental mitgenommen haben. Einige tragen Masken wegen des Uringeruchs. Einer der Beamten bemerkt mich, als ich ihn fotografiere. Er kommt auf mich zu und blafft: „Vorsicht, kane Fotos von unsare Beamten!“
Keine Kontrollen, Zählung oder Registrierung
An Metallgittern entlang werden die neu angekommenen Flüchtlinge in die offene Halle der Grenzstation geführt. Hier stockt die Schlange immer wieder. Vereinzelt weigern sich Flüchtlinge, weiterzugehen, weil sie Angst haben, registriert zu werden und in Österreich bleiben zu müssen. Immer wieder kleinere, tumultartige Szenen. „No Austria. Germany!“ ist zu hören. Erst nachdem einer der Dolmetscher aufklärt, dass hier keine Registrierung erfolgt, bewegt sich die Menge weiter. Auch Gepäck- oder Ausweiskontrollen gibt es keine. Jeder, der kommt wird nach Österreich durchgewunken. Gezählt wird ebenfalls nicht. Mir ist unklar, woher unsere Innenministerin immer die genauen Zahlen der hier ankommenden Menschen hat, wenn absolut keine Daten erfasst werden.
Müllchaos in den Zelten
In der Halle werden die Flüchtlinge mit Wasser, Lebensmittel und Hygieneartikel versorgt. In zwei weiteren Zelten werden gespendete, gebrauchte Kleidung und Schuhe verteilt. Hier geht es zu wie auf einem Bazar: Die Menschen wühlen in großen Schachteln und suchen passende Stücke heraus. Viele lassen hier gleich ihre alten Schuhe stehen.
Neben der großen Halle stehen dutzende Bundesheerzelte, in denen Feldbetten aufgestellt wurden. Hier schliefen in der Nacht zuvor über tausend Flüchtlinge. Und hier ließen die Menschen vieles zurück, auch viele gerade erhaltene Sach- und Kleidungsspenden. Lebensmittel, Semmeln, aufgerissene Windelpackungen, PET-Flaschen, Kleidung, benutzte Hygieneartikel… hier drin türmt sich der Müll. Ein trauriger Anblick, denn gerade den nachfolgenden Flüchtlingen gegenüber, die noch dazu Landsleute sind, empfinde ich das als rücksichtslos. Schlagartig wird mir aber wieder bewusst, dass hier andere Maßstäbe anzulegen sind. Zudem befinden sich auch hier kaum Müllbehälter.
Flüchtlinge werden mit Bussen und Taxis in die Notquartiere gebracht
Auf der anderen Seite der Halle drängen sich ca. 50 Buschauffeure und Taxifahrer, die auf die auf Fuhren warten. Mittels einem aus Absperrgittern errichteten Trichter werden die Menschen von der Polizei den Fahrzeugkapazitäten gemäß in Gruppen eingeteilt und weiter in die Notquartiere gebracht. Manche gehen an dieser Station einfach vorbei über die Grenze, weil dahinter Freunde, Bekannte oder Verwandte, die bereits hier leben, mit dem eigenen PKW warten. Einige andere hingegen chartern privat ein Taxi und machen sich auf den Weg Richtung Deutschland… auch eine Art des Schlepperwesens. Ein Busfahrer sagt mir, mancher Taxler würde 1.000 Euro und mehr für die Fahrt zur deutschen Grenze kassieren.
Mein Fazit: Wenn man die hier ankommenden Menschenmassen sieht, scheint es am ersten Blick unvorstellbar, das alles zu bewältigen. Hut ab, wie gut die Verantwortlichen hier trotz aller Probleme mit dem enormen Ansturm zurechtkommen. Aber auch die Disziplin der vielen Flüchtlinge überraschte mich – anhand der Odyssee, die manche durchmachten, alles andere als selbstverständlich. Ich bin wirklich stolz, was Österreich und seine Hilfsorganisationen hier selbstlos und uneigennützig an Menschlichkeit leisten.