Richtiggehend eingeprügelt wird derzeit auf die türkische Staatsführung – auch von unseren Politikern und Würdenträgern. Diesmal allerdings zu unrecht: Warum sollte sich die Türkei von selbst untätigen Ländern in einen Bodenkrieg mit der IS treiben lassen? Warum das tun, wovor alle anderen europäischen Staaten aus durchaus nachvollziehbaren Gründen zurückschrecken? Europäische Moralapostel, die dem türkischen Staatschef Erdogan wegen des Nichtangriffsbefehls Kalkül und „menschenverachtende Berechnung“ vorwerfen: Das riecht streng nach Satire, ist aber absurde Realitität.
Mindestens gleichlaut sollten diese (meist im gut gepolsterten Moderationssessel sitzenden) TV-Journalisten oder Politiker fordern, ihre eigenen Armeen, ihre eigenen Söhne und Töchter an die NATO-Außengrenze zu schicken und dort den Kampf gegen die islamischen Gotteskrieger aufzunehmen. Das würde keiner wagen, denn: Särge eigener Staatsbürger aus einem Militär-Transportflugzeug unter traurigen Trompetenklängen auszuladen, lässt sich an der politischen Heimatfront schwerer verkaufen als ein paar tausend abgeschlachtete Kurden irgendwo im syrisch-türkischen Grenzgebiet. Dann lieber entrüstet der USA oder der Türkei moralische Verfehlungen vorwerfen, weil sie gar so tatenlos zusehen, wie an der NATO-Außengrenze munter massakriert wird. Leider einmal mehr ein Beweis, dass die EU außenpolitisch einmal mehr nicht mal eine Nebenrolle spielen kann.
Dass unsere Politiker dann auch noch die Aufnahme von Flüchtlingen als „Last“ bezeichnen und sich fast alle Bundesländer zieren, zu helfen, passt erschreckend gut ins Bild. Nicht die Türkei (die mittlerweile fast zwei Millionen geflohene Menschen aufgenommen hat) oder die USA agieren menschenverachtend, wir Europäer sind es.
wilson holz