„Die Spaltung der Gesellschaft war noch nie so groß wie heute“, sie sei „unüberwindbar“, gehe mitten durch die Bevölkerung und sei einzigartig in der Geschichte, wie es so vieles in der heutigen Zeit „noch nie gegeben“ habe. Doch wie so oft ist dieser Absolutismus vor allem eines: absoluter Unsinn.
Diese angeblich „noch nie dagewesene“ Spaltung, aufgrund der man nicht mehr miteinander spreche, ist eine Randerscheinung im Vergleich zu dem, was in den letzten 100 Jahren bereits an tatsächlicher und um einiges radikalerer Spaltung, Hass und Auseinandersetzung geschah. Weil man intensiv diskutiert, den anderen auch mal (zugegebenermaßen mit völlig unpassenden, überzogenen) Schimpfworten zudeckt oder Aussagen wie „Mit dem red’ ich nicht mehr“ tätigt, sind wir in der nach oben hin offenen Eskalationsskala aktuell bei „Noch nie dagewesen“ angelangt. Falsch – denn wer so etwas behauptet, ist schlichtweg vergangenheitsvergessen.
„Irgendwann ist uns in den letzten 30, 40 Jahren der (eigentlich selbstverständliche) Mut zu klaren, offenen Worten abhanden gekommen. Es wird blumig herumgedruckst und um den heißen Brei herum manövriert. Wer Dinge offen anspricht, ist radikal und gilt sofort als „Spalter“. Warum eigentlich?“
Einziger Unterschied: Damals fehlte noch die niederschwellige Möglichkeit, die persönliche, eigene Meinung auch kundzutun und in sozialen Medien zu verbreiten. Es gab im Vor-Internetzeitalter lediglich das Stilmittel des Leserbriefs, dem es an Schärfe und Würze aber ebenso wenig fehlte wie heute so manchem Social Media Posting.
Und auch die politischen Diskussionen im Hohen Haus wurden schon anno dazumal teils um einiges schärfer geführt als in den heutigen, angeblich so maßlosen Zeiten. Irgendwann ist uns in den letzten 30, 40 Jahren der (eigentlich selbstverständliche) Mut zu klaren, offenen Worten abhanden gekommen. Es wird blumig herumgedruckst und um den heißen Brei herum manövriert. Wer Dinge offen anspricht, ist radikal und gilt sofort als „Spalter“. Warum eigentlich?
Bereits 1986 teilte der damalige Präsidentschaftswahlkampf von Ex UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim Österreich in zwei Lager. Im März desselben Jahres wurde bekannt, dass Waldheim seine Mitgliedschaft in einer NS-Organisation und seinen Kriegseinsatz auf dem Balkan verschwiegen hatte. Er verteidigte sich mit den Worten, er habe lediglich seine „Pflicht als Soldat“ erfüllt. Es kam zwar zu keinen Unruhen, aber Waldheim-Befürworter und -gegner gingen sich ins öffentlichen und privaten Diskussionen bzw. bei Waldheims Wahlkampfauftritten (fast) an die Gurgel, das Schimpfwort „Nazi“ wurde bereits damals inflationär für jeden gebraucht, der sich als möglicher oder tatsächlicher Waldheim-Wähler outete, man wurde geächtet und beschimpft – umgekehrt natürlich auch, die Waldheim-Kritiker wurden der Gruppe der „Nestbeschmutzer“ zugeordnet. Auch die Rollenverteilung der Medien in „Rechts“ (alle neutralen und Waldheim-freundlichen Zeitungen) und „Links“ funktionierte bereits damals mit der entsprechenden Verve und Intensität perfekt.
„Die heutige Zuspitzung Pro- und Contra-FPÖ wiederholt sich nun fast 40 Jahre später erneut. Die Schärfe war damals gefühlt weit intensiver, weil der Staat noch stärker vom rot-schwarzen Links-Rechts-Kastldenken gefesselt war und Jörg Haider das Phänomen des rechten Populismus erstmals europaweit auf eine große, breite Bühne brachte.“
Auch der Aufstieg Jörg Haider fiel in diese Zeit – und auch da sahen mediale Kommentatoren ein tief gespaltenes Land, das in Begeisterung und Abstoßung der politischen Naturgewalt Jörg Haider aufgeteilt wurde. Die heutige Zuspitzung Pro- und Contra-FPÖ wiederholt sich nun fast 40 Jahre später erneut. Die Schärfe war damals gefühlt weit intensiver, weil der Staat noch stärker vom rot-schwarzen Links-Rechts-Kastldenken gefesselt war und Jörg Haider das Phänomen des rechten Populismus erstmals europaweit auf eine große, breite Bühne brachte. So what.
Und in den 1960er-Jahren fanden weltweit Studentenproteste statt, auch da ging ein sehr, sehr tiefer Riss durch die Gesellschaft und den Staat. Damals gab es Massendemos, Zusammenstöße mit der Polizei und sogar Todesopfer (auch wenn die Studentenunruhen bei uns um ein Vielfaches gesitteter abliefen als bei unseren deutschen Nachbarn), in einigen Ländern legten Streiks das gesamte öffentliche Leben lahm, der Hass auf die Presse – speziell auf den Springer-Konzern – war vor allem in Deutschland grenzenlos, weil sich die Zeitungen mit aller Macht gegen die Studentenproteste – und damit gegen die mehrheitliche öffentliche Meinung (große Teile der Bevölkerung sympathisierte mit den Studenten) stellten.
Und gehen wir nochmals 30 Jahre zurück, sind wir mitten im Februaraufstand von 1934, der in Österreich hunderte von Todesopfern forderte. Konfliktparteien war damals der 1933 verbotene Republikanische Schutzbund (das war der militärische Arm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei) und das diktatorische Dollfuß-Regime (das heute noch von Teilen der ÖVP anerkennend bewundert wird). Dieser (rot-schwarze) Bürgerkrieg nahm damals sogar in Linz seinen Ausgang. Wenn die heutige „Spaltung der Gesellschaft“ mit ihren deftigen sozialen Postings angeblich „noch nie dagewesen“ ist, was war dann der Februaraufstand 1934 mit hunderten Toten?
Zeigt: Die „Spaltung“ der Gesellschaft ist keine Erfindung der letzten Jahre, sondern kehrt immer wieder. Dank der Schlagzeilensucht ist sie diesmal halt „noch nie dagewesen“. Wir sollten uns nicht ständig derlei Unsinn einreden lassen. Wie bei Naturereignissen (Hochwasser), Wetterphänomenen oder anderen Geschehnissen sind vor allem die Medien heute aufgrund ihrer Sensationsgeilheit dazu getrimmt, alle relevanten Vorkommnisse mit Zuspitzungen wie „Noch nie dagewesen“, „Einmalig“ oder „Rekord“(Hitze) zu versehen.
Zurück ins Jetzt, wo ein aktuelles Beispiel die völlige Ausgeufertheit dieser Spaltungs-Diskussion zeigt. Das Attentat auf Präsidentschaftskandidat Donald Trump wird medial fast schon inbrünstig als Beweis dieser – einmal geht’s noch – „noch nie dagewesenen“ Spaltung bzw. wohin diese führen kann und als Folge des allgegenwärtigen, unüberwindbaren Hasses genannt. Wer so argumentiert, hat in Geschichte nicht aufgepasst. Denn: Wenn man die Zahl der gelungenen, vereitelten oder „nur“ geplanten Mordanschläge auf US-Präsidenten in den letzten hundert Jahren mit seinen zehn Fingern zählen will, bräuchte dazu mindestens drei weitere Hände, 22 bekannte Attentate sind dokumentiert. Derlei Mordanschläge gab’s und gibt’s also – traurig genug – immer wieder und das ganz ohne „noch nie dagewesener Spaltung“.
Wir leben in Zeiten von unüberwindbaren Gräben und Spaltung? Mumpitz. Das Gegenteil ist der Fall. Am Sportplatz, am Stammtisch oder in der Sauna kommen die Leute z’samm wie vor 20, 30 oder 50 Jahren, wo ähnlich leidenschaftlich (aber ohne Zuhilfenahme sozialer Medien) diskutiert und gestritten wurde. Dass heute keiner mehr den andersdenkenden Nachbarn anschaut oder man sich wechselseitiges Kontaktverbot erteilt, stimmt einfach nicht. Zumindest passiert das nicht mehr oder weniger als 1970 oder 1980. Ein paar notorische Streithanseln und Ungustln gab und gibt es immer wieder, aber mit denen geht man jetzt wie damals nicht unbedingt bevorzugt auf ein Bier.
Widerspruch und auch mal eine knackige Diskussion, die an (oder über) die Grenzen geht, sind durchaus zulässig, ja sogar wichtig und richtig. Das hat es immer gegeben und wird (hoffentlich) immer so sein. In jede Spaltung passen am besten ein paar gemeinsame Bier. Prost, ihr Nazis, Kommunisten, Linke und Rechte!